Donnerstag, 6. November 2014

Espuma sobre piedras von Wingston González

Wingston González 2014. Foto: Timo Berger
Es war schon spät, aber Wingston González, bestand auf einen Besuch. Nimm den Metrobus, riet er mir. Es ist schon dunkel, war ein Einwand, den er ernst nahm, aber eine Lösung parat hatte: Bleib um Himmels Willen in der Station des Metrobus, Plaza Barrios, ich hole dich ab, sagte er und legte auf. Abends an einer Metrobushaltestelle in der Zona 9 zwischen Hotelhochhäusern und Autofriedhöfen zu warten, stimmt melancholisch. Wenn man in Guatemala-Stadt abends in den Metrobus steigt, fühlt man sich als Mitteleuropäer plötzlich wie ein Alien. Man wird angesehen und überragt die meisten um einen Kopf. Was auffällt neben der rasanten Geschwindigkeit des Metrobus, ist das Schweigen der Passagiere. Nur die Blicke sind laut. Bleib um Himmelswillen in der Station! klingt mir die ganze Fahrt über in den Ohren und auch als ich auf der überhöhten Mittelbucht an der 9a Avenida aussteige. Ich blicke aus dem überdachten Station nach draußen, der Platz nebenan mit der Reiterstatue ist fast verwaist, die Passagiere verlieren sich in der Dunkelheit. Plötzlich steht Wingston neben mir. Nach einer herzlichen Umarmung zieht er mich ins Freie und lotst mich in eine Sackgasse, dort steht ein Auto bereit, kein offizielles Taxi, einer der unzähligen Einwohner von Guatemala-Stadt, die sich mit Fahrdiensten verdingen. Wir werden ins Auto gewunken, wie noch zwei, drei weitere Passagiere. Zuerst drehen die Räder auf den Kieselsteinen durch, dann nimmt das Gefährt an Fahrt an. Wingston weist auf Gebäude, die an uns vorbeiziehen, zeigt den Wechsel der Viertel an, erklärt die Stadt. Wir nähern uns seinem Viertel, er sagt, wir müssen noch Brot holen, ich sage, ich bezahle die Getränke und er hält den Fahrer an, lass uns an der Ecke raus. Gegenüber ist eine Bäckerei, die noch offen ist. Eine ältere Frau streicht Teig für Maistortillas auf eine Herdplatte aus Gusseisen, unter der sich die Glut befindet. Wir kaufen zehn frischgebackene Tortillas. Und einen halben Block weiter Bier, Limo und Wasser. Wingston ist ein großer Menschenfreund. Seine Augen strahlten als er an jenem Abend, nach der Odyssee mit Metrobus, „Ersatztaxi“ und Fußmarsch endlich seine Dampfkochtopf öffnen konnte. Bohnen befanden sich darin, Würste und ein wenig Speck, Reis und Salat wurden dazu serviert, ein harmonischer Gesamtklang entstand. So wie in seiner Dichtung, die – ohne eurozentristische Hierarchien – die Erinnerungen und Sprache der Sklaven mit den Zitaten aus der angelsächsischen Lyrik, der spanischsprachige Dichtung Lateinamerikas und dem Straßenslang Guatemala-Stadts vermischt. Ende 2013 kam er als Gast der Latinale nach Berlin, zuvor hatte uns unser gemeinsamer costaricanischer Verleger Juán Hernández per geteilter Email bekannt gemacht und wir hatten uns schon fast ein Jahr lang virtuell unterhalten, über das Wetter, seine und meine Arbeit, unsere Familien und über seine Gedichte, die ich übersetzte. Als wir uns endlich persönlich trafen, war es wie einen alten Bekannten zu treffen.



Eine neue Übersetzung aus seinem neuesten Band "Espuma sobre piedra" (2014), die für das Goethe Institut México entstanden ist.

Mito de otro mismo

Era un niño artificial. Un
extraño niño artificial en una
especie de pradera plástica
Un niño destructor de todo lo
que tocaba, lo que le tocaba y
lo que, al final de la noche entra
a habitar su dos corazones
Ese niño era yo. Un fulano pequeño
que quería el hoy como se quiere
un puñado de diamantes
en la calavera de la abuela. O
como deseamos todos, por decir algo
llegar a fósil, al menos a gota
de ADN conservada en ámbar
en una jungla del Caribe
Ese chico soy yo. Una suerte
de paraíso maldito, edén recobrado
por una expansión que suelta las
riendas de su insignificante cólera
Preocupado por las palabras
mejor tratadas por otros, un
animal mediocre hilado a una
santidad invertida, a esta
presencia sin aura, sin arco
Qué mierda. Saber que morimos
no significa que morimos
Con los días la ceguera
me hace menos inmisericorde y
lloro por prados y nubes
El niño sospecha que un difunto
va de caminata en su pecho aún
deforme: Todo lo que está dentro
se halla más completo afuera
mucho mejor y a contraluz
Y con los días, se abalanza
sobre paz e insecticidas
y cree que el mar de Europa
es limbo helado por sus
sueños, un cerebro; que la radiación de
Júpiter es cosa de las palabras
que apenas sabe ordeñar
Ese niño seré yo. Una imagen
del Livingston del año 93:
los cartuchos se derriten con
el aliento venenoso del
cielo; las dos calles prin
cipales del pueblo tarta
mudean juntas una canción
que nadie ha querido
recordar siquiera; una casa de naipes
justo detrás de la sinagoga
se derrumba sin asombro ni
lámpara que cuide
la exactitud inofensiva
de la demolición. Sol de óxido
oxígeno en llamas, oh, dos
soles filtrados en la Historia
de la Cultura. ¿Ven? Qué
miserables lagartos
en una fuente de cemento
El río vidrioso tan cerca
de las estrellas despintadas
de un equipo de básquet
Y cree, sospecha, que con
los días que pasen podrá
sobrevivir al magnético
sonido de la gloria, la sim
pleza de la gloria, que
no sabrá apenas consiste
en lubricidades sencillas
en pájaros y alacranes
en adornos de papel deca
dentes y fiesta de cumpleaños
Llorar a secas y sin mucha
pasión las calles que alguien
borra de un mapa de escuela
Qué será del niño gótico
para el que la cultura
es una acumulación de ideas
provistas para ser borradas
por la entropía. Nada
escrito mármol, todo
a merced de una desconocida
energía que expande, que divide
las necedades de la gente
que mañana, a esta hora
habrá olvidado su propia
sangre congelada

Mythos des anderen Selbst

Er war ein unechter Junge. Ein
seltsam unechter Junge auf einer
Art Wiese aus Kunstrasen
Ein Junge, das alles zerstörte
was er berührte, was ihn berührte und
was am Ende des Tages in
seine zwei Herzen hineinschlüpfte
Jener Junge war ich. Ein Knirps
der das Heute liebte, wie man
eine Handvoll Diamanten
im Schädel seiner Großmutter liebt. Oder
wie wir uns, etwa, wünschen
es bis zum Fossil zu schaffen, zumindest zum DNA-
Tropfen, konserviert in Bernstein
im Dschungel der Karibik
Jener Junge bin ich. Ein ver-
wunschenes Paradies, der Garten Eden
wiedererlangt durch einen Ausbruch, der die Zügel
seines haltlosen Zorns schießen lässt
Er ist besorgt um die Worte
mit denen andre besser umgehen, ein
gewöhnliches Tier angebunden
an einen inversen Heiligen, an eine
Figur ohne Zauber, ohne Bogen
Was für ein Scheiß. Zu wissen, dass wir sterben
bedeutet nicht, dass wir sterben
Mit den Tagen lässt mich die Blindheit
weniger hart sein und
ich weine um Weiden und Wolken
Er fürchtet, dass ein Verstorbener
in seiner noch entstellten Brust
wandert: Alles, was in ihr ist
findet sich draußen vollständiger
besser und im Gegenlicht
Und mit den Tagen stürzt sich der Junge
auf den Frieden, auf Insektizide
und glaubt, dass Europas Meer
die von seinen Träumen vereiste
Vorhölle sei, ein Gehirn; dass die Strahlung des
Jupiters eine Sache der Worte sei
die es selten zu melken versteht
Jener Junge werde ich sein. Ein Bild
von Livingston im Jahr 1993:
die Callas vertrocknen
im giftigen Atem des
Himmels; die beiden Haupt
straßen der Stadt stot
tern zusammen ein Lied
an das sich gar niemand
erinnern wollte; ein Kartenhaus
genau hinter der Synagoge
stürzt in sich zusammen ohne Stauen, ohne
Lampe, die darüber wacht
dass der Abriss gefahrlos und sorgfältig
von statten geht. Rostrote Sonne
Sauerstoff in Flammen, oh, zwei
Sonnen scheinen durch die Geschichte
der Kultur. Seht ihr? Was für
bedauernswerte Kaimane
in einem Zementbrunnen
Und der glasige Fluss so nah
an den ausgeblichenen Sternen
eines Basketball-Teams
Und er glaubt, vermutet, dass es mit
den Tagen, die verstreichen, den
magnetischen Klang des Ruhms
überleben wird, die Ein
fachheit des Ruhms, der
– er weiß es nicht – nur aus
Schlüpfrigem besteht
aus Vögeln und Skorpionen
aus dekadenten Papiergirl
anden und Geburtstagsfeiern
Schlicht und einfach, ohne große Leiden
schaft über die Straßen weinen, die jemand
auf der Karte der Schule auslöscht
Was wird aus dem gotischen Jungen
für den die Kultur
ein Anhäufung von Ideen ist
dafür bestimmt,
in der Entropie aufzugehen. Nichts
ist in Marmor gemeißelt, alles
fällt einer unbekannten
Energie anheim, die die Dummheit
der Leute ausdehnt und teilt
die Morgen, um genau diese Uhrzeit
ihr eigenes erstarrtes Blut
vergessen haben werden

Wingston González wurde ist 1986 in Livingston, Guatemala, geboren. Er hat mehrere Gedichtbände veröffentlicht, unter anderem "san juan – la esperanza" und “Miss muñecas Vudu” (beide 2013 erschienen).

Weiterlesen:
- Porträt auf Cuenta Centroamérica (deutsch)
- Retrato auf Cuenta Centroamérica (espanol)
- Gedichte auf lyrikline.org
- Gedichte in poet, Nr. 16, Frühjahr 2014