Mittwoch, 17. Februar 2021

Granada de mi corazón


El poema que escribí y grabé para la edición virtual del Festival Internacional de Poesía de Granada, Nicaragua, 2021. Se estrena la grabación el 18 de febrero 2021 a las 19 horas en Managua (2 a.m del 19 de febrero en Europa Central).


La revolución no será tuiteada

 

 

Si fuera posible manipular con los dedos

esta ciudad invernal, correr los velos de niebla

 

borrar el cielo opaco para acercarnos un paseo

de adoquines bordeado de colores saturados en otra ciudad

 

tropical. Y aunque no parezca difícil abrir una de sus puertas

correr la rendija pasando el umbral y meterse

 

en una sala con sillas de mimbre, no sé

si me atrevería tocar el portón de hierro fundido

 

tan segura de si misma, esta iguana

cruza el zaguán, guerrero reptil

 

de una vanguardia lenta que algún vecino

más cerca del lago pondrá a la parrilla pronto

 

y mientras sube en volutas el humo

las imágenes de la Calzada se difuminan

 

y me reconozco en el falso espejo de una pantalla

apático tipeando un mensaje a un lejano amigo

 

rige un radio de quince kilómetros

alrededor de Berlín del que ya no se puede salir

 

hasta ayer impensable en una ciudad dividida

entre dos sistemas, con una parte cercada por el Muro.

 

En el nuevo confinamiento emergen bici-sendas

en un cruce donde no hace mucho un camión atropelló una ciclista.

 

Pero las medidas oficiales no siempre son de aclamar.

Imponen aplicaciones, transpondedores…

 

Digitalizar la entrada a la oficina, la universidad, el transporte público

controlar los movimientos en defensa de la higiene

 

Ya no resulta descabellado conectar todo con todo?

Qué posteaste en Twitter? Estuviste cuestionando las restricciones?

 

Nos quedamos en casa, en ese departamento modesto

cuyo precio de alquiler sigue una hipotética curva

 

Sería herético preguntar si es el mero transcurso del tiempo

o el efecto de la implementación de políticas?

 

Qué sabe un poeta cuando su único afán es jugar con las palabras

explorar las zonas desconocidas de su lengua?

 

Pero cuando ponen toque de queda. La contingencia ya no existe.

Encontrar algo idóneo, sin plan ni propósito.

 

Apreciar, por ejemplo, la coincidencia de una tenue luz

con una pareja que sale no respetando ningún protocolo.

 

Qué más puede ser la poesía que un dialogo entre desconocidos?

Entre muertos y vivos. O una de esas aventuras

 

de pasar en bicicleta por dentro de una escultura

de dos placas de acero artificialmente corroídas

 

cámaras de eco que multiplican tu voz …

Cumplimos con que nos piden perdidos en salas de estar

 

con mascotas, talismanes, fetiches …

con cuadros erráticos al fondo

 

seamos una linda silueta en el recuerdo, una línea filosa

recortando la ventana por la que entra la contraluz.

Mittwoch, 11. November 2020

 

Für die diesjährige Latinale, die aufgrund des "Lockdown light" in Deutschland nur online stattfinden darf, habe ich Gedichte von Carlos Soto Román aus Chile übersetzt. Aus zwei Gedichtbänden, die mich auf besondere Weise ansprechen: "11" ist ein Langgedicht im Montageformat, das allein auf dokumentarischen Quellen beruht - rund um den 11. September, dem Tag des Militärputsches angeführt von Augusto Pinochet. "Antuco" ist ein zwischen Dokumentarischem und Fiktivem mäandernder Gedichtband, der auch graphematische Impulse der Konkreten Poesie umsetzt, und an eine historische Tragödie der chilenischen Armee zu Friedenszeiten gemahnt. Und ja ... eigentlich waren wir bis zuletzt mit der Bundespolizei im Gespräch, damit Carlos Soto Román dieses Jahr bei uns ist - doch das Virus schrieb Fakten. 

Ein Gedicht von ihm: 

 

Kälte ist ein Gemütszustand

Pflegte mein Vater an einem nebligen Morgen zu sagen

Während er sich die Hände rieb, in sie hineinblies

Auf der Stelle auf- und absprang

Damit hatte er vielleicht recht

Kälte ist ein subjektiver Zustand

Eine Wahrnehmung

So wie wenn wir in einem Aufzug

Den Impuls des freien Falls spüren

Aber nicht fallen

Eine Wahrnehmung

Ist fast immer eine Täuschung

Kälte ist dagegen eine Folge

Ein Ort, der unter der Norm liegt

Eine beigefügte Eigenschaft ohne Erklärung

Kälte definiert sich als Abwesenheit

 

Das Original:


El frío es un estado mental

Solía decir mi padre en las mañanas brumosas

Frotándose las manos, soplándoselas

Dando pequeños saltos sobre el mismo lugar

En esto tal vez tenía razón

El frío es una condición subjetiva

Una percepción

Como cuando estando en un ascensor

Sentimos el impulso de la caída

Pero no caemos

Una percepción

Es casi siempre un engaño

El frío en cambio es una consecuencia

Un lugar que está por debajo de lo habitual

Una propiedad adjetiva sin explicación

El frío se define como una ausencia

 

Freitag, 26. April 2019

Topografien des Künftigen

Kran, Schöneberger Linse, 2019
Zurzeit sitze ich an den Vorbereitungen für ein Ko-Projekt der Latinale. Der Anlass? Seit genau 25 Jahren sind Berlin und Buenos Aires nur befreundete Städte. Die Partnerschaft wird 2019 mit verschieden Veranstaltungen gefeiert. Eine davon ist "Topografien des Künftigen". Schriftsteller*innen aus Berlin und Buenos Aires werden gemeinsam die beiden Metropolen im Mai und Oktober erkunden und darüber sprechen und schreiben. Geladen sind Ulrike Draesner, Lucy Fricke, Tamara Tenenbaum, Gabriela Cabezón Camara, Alan Pauls und Max Czollek. Das Projekt wird dokumentiert auf Topografien des Künftigen.

Samstag, 15. Dezember 2018

Neues Buch, jenseits der mittelalterlichen Stadtmauer

2018 rauschte nur so an mir vorbei (wobei ich gar nicht so genau weiß womit ... achja, ich machte mehrere Reisen (nach Extremadura, Madrid, Wien, Lanzarote, Leipzig, Frankfurt, Hamburg, Frankfurt/Oder, La Paz, Galicien...) und erfuhr dabei spannende Begegnungen, aber es sind dabei keine neuen Übersetzungen in Buchform entstanden ... außer einer Anthologie in Bolivien, davon berichte ich Euch im nächsten Post, wenn das Paket mit den Belegexemplaren, die ich den DichterInnen freudig überbringe, endlich ankommt ... Doch es gibt dennoch etwas zu feiern. Ich habe Ende dieses Jahr endlich einen neuen Gedichtband veröffentlicht: "extra muros. poemas públicos", erschienen in Madrid und Bilbao, die ersten Skizzen dafür sind sicher sieben, acht Jahre alt (inspiriert in den Gedichten von Cecilia Pavón, Fernanda Laguna und anderen) ... Dank an Juanje Saenz, Roberto Córdoba, Ethel Barja, Jorge Locane und Julián Herbert, die verschiedene Versionen dieser Gedichte vor dem Druck gelesen und kommentiert haben ...

Hier nun der offizielle Pressetext:

EXTRA MUROS - TIMO BERGER
Die Stadt ist kein Spaziergang

Timo Bergers Gedichte nehmen immer wieder das Thema der Großstadt auf. Waren es in "A cien cuadras del centro" (San Jose, 2011) und "Microclimas"(Bahía Blanca, 2014) periphere Metropolen wie Buenos Aires und Lima, so widmet sich sein gerade erschienenes Buch "extra muros. poemas públicos"(Madrid, L.U.P.I. & Zoográfico, 2019) der Stadt Berlin. Diese “öffentlichen Gedichte” pendeln zwischen dem urbanen Außenraum und dem inneren Reflektionsraum des Subjekts. Verkehrsbewegungen, Straßenschilder, Begegnungen, historische Spuren irritieren im besten Sinne des Wortes unfokussierten Beobachter und skizzieren eine Poetik der verlorenen Kontingenz im Zeitalter der tief in unsere intimsten Sphären eindringenden Algorithmen. Der Titel “extra muros” verweist auch auf den Entstehungsort dieser Gedichte: Geschrieben im hastigen, rastlosen, unsteten Gehen, fern der Eleganz eines Flaneurs in den schmucklosen Vierteln außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer, die einst Verhikel einer Modernisierung und Expansion Berlins waren und sich heute in von Anonymarchitektur geprägten Durchgangsorte einer sich beschleunigenden Kapitalbewegung verwandelt haben. DIe Gedichte wurde auf Spanisch verfasst, auf Lesungen in Deutschland werden sie durch eine “Live-Übersetzung” ins Deutsche geführt - auch dank der Übersetzerarbeit einiger FreundInnen des Autors.

Bestellt werden kann das Buch direkt beim Verlag in Spanien.

Einen ersten Eindruck von dem Buch kann man hier gewinnen.

Mittwoch, 23. August 2017

Neue Bücher / Nuevos libros

Vielleicht mein liebstes Projekt dieses Jahr. Luis war von Anfang 2015 bis Anfang 2016 in Berlin als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAADs - mit der ganzen Familie. Es lagen ja schon Übersetzungen vor - für die Latinale und für hochroth - aber als Luis in der Stadt war, entfaltete sich eine weitere Dynamik: Er wurde zu ungezählten Lesungen eingeladen. Bei einer, in Haussach im Schwarzwald traf er dann auf seinen künftigen Verleger, Hans Schiler. Der hatte schon Bücher der Latinale-Autorin der ersten Stunde Rocío Cerón verlegt. Peter Holland half, das Projekt abzurunden, den ein oder anderen Text, in den wir uns aus unerklärlichen Gründen verliebt hatten, doch außen vor zu lassen, und die Übersetzungen noch einmal im Lichte der Gesamtauswahl zu überarbeiten. Die Anthologie schließt für mich einen Zyklus ab, der damit begonnen hatte, Luis in Buenos Aires kennenzulernen. Eigentlich weiß ich gar nicht mehr so genau, wann wir Freundschaft schlossen - aber vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig. Wir konnten es jedenfalls Mitte Februar in der Lettrétage vorstellen.
 *
Mit Martín Gambarotta (und zwei anderen Dichter*innen: Cecilia Pavón und Ezequiel Zaidenwerg) bin ich 2009 im Auftrag des Goethe Instituts Buenos Aires zu einer mobilen Schreibwerkstatt aufgebrochen. Mein Vorschlag war, die Gründungsnarrative Argentiniens neu zu beleuchten. Ein Buch, das zu den Klassikern des südamerikanischem Landes zählt, ist "El Matadero" (Der Schlachthof) von Esteban Echeverría. Argentinien war seinerzeit ein bedeutender Fleischproduzent. Doch als wir auf den Laufwegen über dem ehemaligen Schlachthof standen, wo bis heute Kühe am frühen Morgen meistbietend versteigert werden - aber nicht mehr getötet (das passiert nun in Schlächtereien in der Provinz Buenos Aires) fühlten wir uns kurzzeitig an ein Konzentrationslager erinnert. Wir schluckten. Sahen unter uns einen Gabelstapler der eine Kuh, die im Gemenge gefallen und umgeknickt war, hinausbeförderte. Eine Pseudokuh, die es nicht schaffen wird in den wahren Schlachthof, die auf halber Strecke verendet. Während Cecilia Pavón ein Langgedicht aus der Erfahrung schöpfte, sagte mir Martín schon im Café in Mataderos, wo wir uns stärkten, er würde allenfalls ein, zwei Motive, Splitter finden. Um mir später zu mailen, er habe zwei Verse geschrieben, um ein längeres Gedicht zu beenden. Immerhin etwas. "Pseudo", erschienen jüngst bei brueterich press, ist ein Langgedicht in Fragmenten, sprach- und geschichtskritisch. Im September ist Martín Gambarotta dank des Argentinischen Außenministeriums in Berlin und wird den Band am 15. im Literaturhaus, am 23. im Café Plum und am 19. in Hamburg im Chile-Haus vorstellen.

*
Sergio Raimondis Band "Poesía Civil" wiederzuveröffentlichen, war mir ein Herzensangelegenheit, nachdem das Buch, zuerst erschienen 2005 bei wvb, vergriffen war. Peter Holland ermunterte mich weitere Gedichter des Originalbands ins Deutsche zu übersetzen und die bereits bestehenden Versionen zu überarbeiten. Sein Wechsel von hochroth zu Reinecke & Voss gab dem Wunsch meine allerersten in Buchform erschienen Übersetzungen nochmal "anzufassen" eine Perspektive. Wir trafen uns in Cafés und Kneipen und Schöneberg und Friedenau und steckten die Köpfe zusammen - ein Jahr lang. Und am Ende ludt das Haus für Poesie Sergio Raimondi zum Poesiefestival Berlin ein und erlaubte im Nachgang eine Tournee, auf der wir die erweiterte Neuausgabe in Frankfurt, Stuttgart, Osnabrück und Wien vorstellen konnten. Sergio bekam einen ersten Eindruck von der deutschen Provinz - er selbst stammt ja nicht aus Buenos Aires, sondern aus der Hafenstadt Bahía Blanca, am Atlantik gelegen. Sergio mochte seltsamerweise das zerbombte und wiederaufgebaute Stuttgart, den Ausflug nach Österreich. Er wird bald - 2018 - Gelegenheit haben, noch mehr durch Mitteleuropa zu reisen. Das Berliner Künstlerprogramm des DAAD hat ihn für ein Jahr nach Berlin eingeladen.

Donnerstag, 8. Juni 2017

"Ich werde für ein paar Jahre aufhören"

César Aira, 2012. Foto: Timo Berger
Ich dokumentiere ein Gespräch mit César Aira, das ich im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin 2016 geführt habe. Die Lateinamerika Nachrichten haben einen Auszug aus dem Gespräch gedruckt. César Aira und ich hatten einen guten Nachmittag zusammen. Ich zwar etwas gestresst zu unserem Termin, weil mein Diktiergerät just an jenem Tag den Geist aufgab, und ich "on the fly" no eines kaufen musste, mit dem ich natürlich nicht vertraut war. Aber César Aira war in der Lobby eines Hotels in der Nähe des Kudamm tief entspannt und brachte mich schnell auf andere Gedanken. Nach dem Interview bat er mich, noch ein wenig mit ihm spazieren zu gehen. Wir machten einige erratische Bewegungen in verschiedene Himmelsrichtungen, gelangten schließlich - wie auch immer - auf das Dach des Bikinihaus. Dort fand eigentlich eine private Feier statt - wir taten so, als ob wir des Englischen nicht mächtig wären, und genossen die Aussicht auf die Paviane.

Herr Aira, Ihr gerade auf Deutsch erschienen Essayband „Duchamps in Mexiko“ beginnt damit, dass Sie sich darüber ärgern, in Mexiko-Stadt in eine Touristenfalle geraten zu sein. Man bekommt den Eindruck, dass Sie nicht gerne reisen?

Wenn ich reise, dann hasse ich den Ort, an dem ich bin und will so schnell wie möglich wieder in den Flieger steigen. Die Reise nach Mexiko hatte mich sehr deprimiert, und um die Traurigkeit zu zu überwinden, habe ich getan, was ich dann immer tue: Bücher kaufen. Es war ein Buch über Marcel Duchamp. Am nächsten Tag sah ich dasselbe Buch in einem anderen Laden, aber zwei Peso billiger. Ich dachte, hätte ich dieses Exemplar gekauft, hätte ich jetzt zwei Peso mehr und würde ich noch ein anderes, drei Peso billigeres Exemplar kaufen, dann hätte ich insgesamt schon 5 Peso gespart, und fände ich immer mehr, immer billigere Bücher, dann wäre ich irgendwann reich. Solche seltsame Ideen kommen mir!

Mit dieser Idee haben Sie dann den Essay „Duchamp in Mexiko“ geschrieben, der einer trügerischen Logik folgt, ähnlich wie die, die dem Paradoxon von Achilles und der Schildkröte zu grundeliegt.

Ich spiele gerne mit dem Unendlichen, mit unendlichen Reihen. Das habe ich von Borges.

Und warum interessieren Sie sich ausgerechnet für Duchamp?

Duchamp gehörte zu den ersten Dingen, die in mir große Neugier weckten. Er ist rätselhaft, sein Werk unendlich interpretierbar. Eines der ersten Bücher, das ich mir kaufte, als ich mit 18 aus Coronel Pringles zum Studieren nach Buenos Aires ging, war eine Sammlung seiner Schriften unter dem Titel „Marchamp Ducel“, ein Wortspiel mit seinem Namen. Von da an wurde mir Duchamps zu einer Gewohnheit, einem Hobby. An die hundert Bücher über ihn habe ich zu Hause. Einmal hat er ein sehr spezielles Selbstproträt aufgenommen. Von vorne, aber das Gesicht nach unten geneigt, er sieht fast aus wie ein Totenschädel. Er gab ihm den Titel „Duchamp at the age of 85 years“. Ich habe ein Buch, das nur von diesem Foto handelt. Wenn Duchamps genossen hat, dann findet sich ein Buch über das Niesen von Duchamp. Mir wird nie Material fehlen für mein Hobby.

Duchamp hat mit seiner Idee des Readymades die westliche Kunst revolutioniert …

Er war der Vater von dem, was wir heute zeitgenössische Kunst nennen, der Concep Art. Er hat alles gemacht, hat sich in Frauenkleidern fotografiert, Performance aufgeführt. Parfum kreiert. Er hat sich permanent verändert – eine Eigenschaft, die mir an Künstlern gefällt: Immer wieder hat er einen neuen Weg eingeschlagen. Ich wünschte, meine Bücher wären ebenso.

Das zweite Buch, der von Ihnen gerade in Deutschland in einer Neuübersetzung erschienen ist, „Eine Episode im Leben des Reisemalers“ handelt ebenfalls von einem Künstler: Moritz Rugendas, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Südamerika bereiste und Land und Leute in beeindruckenden Tableaus festhielt. Was fasziniert Sie an der Figur des Rugendas?

Der erste Satz meines Buchs lautet: „Es hat im Westen nur wenige wirklich gute Reisemaler gegeben.“ Das spielt auf den Osten an, auf Japaner und Chinesen, wo es wirklich gute Reisemaler gegeben hat. Im Westen arbeiteten die meisten Künstler im Atelier. Anders Rugendas: Er unternahm seine erste Reise nach Südamerika im Alter von 19, 20 als Zeichner einer von Georg Heinrich von Langsdorf angeführten Expedition nach Brasilien. Mich fasziniert diese Figur des jungen Menschen, der in die Welt hinausgeht, bis dahin fast unbekannte Landstriche erkundet. Seine Erlebnisse zeichnete er auf, transformiert sie aber, machte aus ihnen Kunst. In einer Biografie über Moritz Rugendas stieß auf die Episode von seiner zweiten Reise nach Südamerika, die ich in meinem Buch erzähle.

Rugendas querte die Anden von Chile nach Argentinien, weil er den Wunsch hatte, die Pampa zu sehen. Dabei wird sein Pferd vom Blitz getroffen und er selbst schwer verletzt. Gab es diesen Unfall tatsächlich?

Ja, Rugendas blieb für den Rest seines Lebens ein nervöser Tick. Zugegeben, ich übertreibe das ganze im Buch ein wenig, bei mir ist er nach dem Unfall eine Art Monster. Aber was mir an der ganzen Episode am Besten gefällt ist das Ende. Rugendas wollte immer einen Indianerüberfall erleben, um ihn malen zu können. Und dann greifen die Indianer just in dem Moment an, in der er sich auf einer Estancia in Mendoza aufhällt. Trotz seines schlechten Gesundheitszustands skizzierte er die Gefechte. Und am Abend ging er zum Indianerlager und fertigte von ihnen Porträts an. Wie ein Regisseur: Zuerst nimmt er die Totalen auf, dann macht er die Nahaufnahmen.

Und die Indios ließen ihn gewähren?

Er kam ihnen harmlos vor mit seinem Bleistift ... Was mir an diesem Teil von Rugendas Reise auch gefällt, ist Kraus, dass ihn sein Freund begleitet. Denn die einzig wahre argentinische Passion ist die Freundschaft. Vor allem, wenn der Freund – selbst auch Maler weiß, dass er weniger Talent hat – ihm dennoch treu folgt und hilft. Allerdings muss ich auch sagen, dass ich mit dem Roman nicht sehr zufrieden bin, er ist ziemlich konventionell geschrieben. Er scheint aber der erfolgreichste meiner Romane zu sein.

Viele Teile Argentiniens wurden zum ersten Mal von ausländischen Reisenden beschrieben ... umgekehrt schreiben Sie auch, wenn Sie auf Reisen sind?

Es gibt ein regelrechte Genre, die Berichte englischer Reisender in Patagonien, angefangen von Darwin. Ich habe einige dieser Bücher ins Spanische übersetzt. Wenn ich reise, schreibe ich nicht. Als Schriftsteller bin ich ein komplett sesshaftes Wesen. Ich habe meine Routine in den Cafés von Flores. Für mich muss jeder Tag gleich verlaufen. So habe ich eine neutrale Erfahrung, auf deren Grundlage ich meiner Fantasie freien Lauf lassen kann. Wenn ich an anderen Orten bin, funktioniert das bei mir nicht.

Gehen Sie beim Schreiben von einer besonderen Erfahrung aus?

Nein, „Duchamp in Mexiko“ ist eine Ausnahme. Normalerweise schöpfe ich meine Inspirationen aus der Lektüre, der Betrachtung von Kunstwerken oder aus dem Fernsehen, aus trivialen Komödien, manchmal auch aus bizarren Zeichentrickserien. Das mische ich dann mit Borges. Wenn ich dann schreibe, brauche ich doch etwas Persönliches, etwas, das mich selbst berührt, denn sonst bleibt es nur ein reines Spiel mit Ideen – was mir ein wenig banal vorkommt. Zu viel Persönliches will ich aber auch nicht hineingeben, sonst kippt es ins Sentimentale, ins Pathetische, Autobiografische. Es muss eine Balance geben zwischen der seltsamen Logik des Achilles und der Schildkröte und meinen persönlichen Dingen, die normalerweise versteckt sind, dem Text aber Kraft geben.

Man sagt, Sie hätten mittlerweile mehr als 80 Bücher veröffentlicht. Denken Sie dabei die Bücher als Teil eines größeren Werkzusammenhangs oder steht jeder Roman für sich?

Wenn ich die Gesamtheit meiner Bücher betrachte, muss ich sagen, nein, es gibt kein übergreifende Projekt, jedes Buch ist ein anderes Abenteuer. Eigentlich sind sie letzlich nicht so verschieden, weil ich ja immer derjenige bin, der sie schreibt. Ich habe so meine Vorlieben. So werden die Bücher am Ende immer ähnlich. Doch ich versuche immer, neue Weg zu gehen. Jetzt schreibe ich etwas mit einer Figur, die aus meinen früheren Bücher stammt, der Kazique Cafúlcura, ich nenne ihn so, sein eigentlicher Name ist Calfucurá. Ich habe das „l“ versetzt. Es ist ein von mir erfundener Kazike, auch wenn ich Elemente seiner realen Biografie übernommen habe ...

... Calfucucurá war ein Mapucheanführer aus Chille, der mit Tausenden von Kriegern Teile der Pampa kontrollierte und immer wieder argentinische Städte überfiel ...

.. ich habe aus ihm einen Philosophen gemacht, einen Weisen, der ein wenig verrückt und ein ziemlicher Säufer war. Ich habe vor, zwei oder drei Romane über Cafulcurá zu schreiben über die Zeit, bevor er in die argentinische Pampa übersiedelte. Viele Araukaner kamen aus Chile über die Anden und blieben dann mehrere Generationen auf argentinischer Seite. Mit Calfucurá zogen sie dann gen Norden in die Pampa, als die Rinderwirtschaft ausgedehnt wurde, und sie gratis an Essen kamen und schließlich ein großes Imperium beherrschten.

Wann war das?

Im 19. Jahrhundert. Das ganze wurde erst 1881 von General Roca mit dem sogenannten Wüstenkampagne beendet, bei der die Araukaner in den Süden vertrieben wurden.

Sie recyceln also Figuren aus älteren Werken. In einem der jetzt erschienen Essays schreiben Sie, Sie träumten davon, ein Romanschema zu entwerfen, das Sie künftig nur noch zu füllen brauchen, um zu schreiben ...

Die Idee dahinter war eigentlich das Schema eines Romans zu nehmen, also die Form, nicht den Inhalt, um mit dieser Form ganz andere Dinge anzustellen, Autofahren zu lernen, zum Beispiel, oder Torten zu backen.

Also ein Schreiben, das sich verselbstständigt?

Tatsächlich gibt es eine Art Automatismus in meinem Schreiben, aber nicht den Automatismus des Unbewussten, sondern den der Außenwelt. Ich sehe zum Beispiel zwei Männer mit vollem Haar und einen mit Glaze und der mit der Glatze gibt Anweisungen. Wenn ich nun etwas über einen chinesischen Supermarkt in Buenos Aires schreiben will, schreibe ich: „Da waren zwei Männer mit vollem Haar und einen Glatzkopf, der Befehle gab.“ Das hat nichts mit der Geschichte an sich zu tun, sondern kommt von dem, was ich in dem Café beobachte, wo ich schreibe. Dennoch füge ich nicht einfach nur eine Sache zu einer anderen, sondern ich muss den Glatzkopf und die beiden Männer mit vollem Haar wie in einem konventionellen Roman glaubwürdig einführen.

Also ist der konventionelle, gut geschriebene Roman wichtig als Bezugsgröße?

Das Ideale ist natürlich, dass der Schriftsteller seinen eigenen Paradigma für Qualität erfindet. Wenn er den bereits durchgesetzten Vorlagen von Qualität folgt, wird das einzige was er bekommt, eine „guter Roman“ sein, also ein Roman mehr, von denen es so viele gibt, und die diese deprimierenden Tische der Buchläden füttern, die einem die Lust am Lesen verleiden. Aber seine eigenen Paradigmen zu erfinden, ist selbstverständlich nicht so einfach,; diejenige, die es tun, geben der Literaturgeschichte eine neue Wendung. Neue Paradigmen zu erfinden bedeutet sich sich selbst neu zu erfinden.

Sie haben bei Ihrer Rede zur Eröffnung des internationalen literatufestivals berlin die Nutzlosigkeit der Literatur verteidigt. Warum?

Die Literatur hatte noch nie einen Nutzen, außer den, den Lesern, einer winzigen Minderheit der Gesellschaft, Freude zu bereiten. Und aus diesem Grund halte ich staatliche Kampagnen zur Förderung des Lesens für absurd. Wenn Verleger und Autoren sagen, dass Lesen gut sei, verstehe ich das, es ist schließlich ihr Geschäft. Wenn das aber der Staat tut, ist es nicht zu Ende gedacht. Denn man braucht Menschen, die arbeiten und produzieren, niemanden, der sich zu Hause einschließt, um Romane zu schreiben. Zwar hilft Lesen, den Geschmack zu verfeinern, einen intelligenter zu machen. Nur wer braucht diese Eigenschaften? Wenn jemand einen verfeinerten Geschmack hat, dann wird er zu einem Schmarotzer ...

weil er nicht funktional ist für das System?

Ja. Gleichzeitig ist diese Nutzlosigkeit der Literatur der Schlüssel zu ihrer Freiheit. Von dem Zeitpunkt an, in dem man der Literatur einen Nutzen zuschreibt, verliert sie ihre Freiheit. Wenn man mir vorgibt, ich solle zur Bildung der Jugend beitragen, dann kann ich schon nicht mehr so schreiben, wie es mir gefällt: mit der ezessiven Vorstellungskraft, dem ganzen Unsinn ... ich würde mir nur Gedanken darüber machen, wie mein Schreiben zur Bildung beiträgt und schon wäre ich eingeschränkt.

Wird denn aber nicht gerade von Schriftsteller, die aus Lateinamerika kommen, erwartet, dass sie sich politisch positionieren ...

Ich sage immer allen im Vorfeld, dass ich weder über Politik, noch über Fußball sprechen werde – zwei Dinge, die ich für sehr ähnlich halte.

Inwiefern?

Wie über Fußball und wie über Politik geredet wird, ist vergleichbar. Ich lese etwa in einem Artikel: „Gabriela Michetti, die Vizepräsidentin Argentinens, orientiert sich nach links, erhält aber keine Unterstützung, und wenn sie vorrückt, hat sie nicht den Rückhalt von ...“ Wenn man den Namen Michetti durch Messi austauschst, funktioniert der Text genauso: „Messi hält sich links, wird aber nicht angespielt, rückt dennoch vor ...“

Was lesen Sie, wenn Sie keine Artikel über Fußball lesen?

Zurzeit lese ich Bücher wieder, die ich vor dreißig Jahren gelesen habe. Auch wenn ich mich an die Grundzüge des Buchs erinnere, ist das erneute Lesen anders. Man liest aus der Perspektive von dem, was man erlebt hat, mit dem Geschmack, den man entwickelt hat. Ich mag es, Bücher wieder zu lesen, auch wenn ich mir das nicht ausgesucht habe: Oft gehe ich in einen Buchladen und komme mit leeren Händen zurück, weil das einzige Buch, das mich interessiert, eines ist, das ich schon zu Hause habe.

Lesen Sie auch die argentinischen Klassiker wie Julio Cortázar wieder?

Mit Cortázar habe ich eine unangenehme Erfahrung gemacht. As ich 14, 15 war, las ich alles von ihm, weil alle jungen Argentinier Cortázar lasen. Und es immer noch tun. Es ist ein Autor für diejenigen, die mit der Literatur beginnen. Und diese Funktion erfüllt er sehr gut. Ich las ihn mit extremer Bewunderung, besonders die Erzählung „Der Verfolger“, eine lange Erzählung über Jazz-Musik, inspiriert von Charly Parker, und „Die Vereinigung“, über das Aufeinandertreffen von Che Guevara und Fidel Castro in der Sierra Maestra. Beide Erzählungen hielt ich für das Größte. Als ich sie wieder las, fand sie unglaublich schlecht. Wie war es möglich, dass ich, als ich jung war, mich so täuschte – ich hatte damals ja schon gute Sachen wie Borges gelesen? Ich glaube, ich habe eine Antwort gefunden. Während ich Cortazár als Jugendlicher las, dachte ich, es wäre gut, wenn nun das passierte, und es passierte. Cortázar erriet meine Gedanken, die Gedanken eines 15-jährigen, der Schriftsteller sein will. Darin liegt das Geheimnis der Anziehungskraft, die Cortázar auf Jugendliche ausübt. Er errät ihr Denken und schreibt, was sie schreiben wollen.

Welches Buch haben Sie zuletzt in Argentinien veröffentlich?

Ein Buch unter dem Titel „La invención del tren fantasma“ (auf deutsch etwa: „Die Erfindung des Geisterzugs“). Es besteht aus drei Teilen, die sich – nicht exakt gleich – wiederholen. Sie handeln von einem Land, das eine Monokultur betrieibt. Im ersten Fall ist es eine Monokultur von Linguisten. Da sie in anderen Länder nachgefragt werden, kommen Devisen rein. Doch dann wechseln die Linguisten zur Poesie. Die will aber niemand, das Land geht bankrott. In der zweiten Erzählung passiert das gleiche, nur sind es Ärchäologen, die antike Statuen ausgraben. Museen auf der ganzen Welt kaufen sie, das Land lebt davon. Dann wechseln die Archäologen zur Zeitgenössischen Kunst. Sie graben nun seltsame Apparate aus, die niemand will und das Land geht wieder bankrott. In der dritten Erzählungen malt ein Jugendlicher Kreise auf eine Wand. Viele Jahre nach seinem Tod stellen die Leute fest, dass diese Zeichnungen Pläne für einen Geisterzug sind. Das Land verkauft die Lizenz in alle Welt, und der Wohlstand kehrt wieder in das kleine Land zurück. Für mich sind das drei Prosagedichte über Makroökonomie.

Was ist ihr nächstes Projekt?

Ich werde für ein paar Jahre aufhören. Ich habe es satt, gesagt zu bekommen, dass ich so viel veröffentliche, wie fruchtbar ich sei. Seit vielen Jahren hat niemand mehr gesagt, dass meine Bücher gut sind, nur dass es viele sind. Ich werde für lange Zeit nichts mehr veröffentlichen. Das passt mir ganz gut, denn ich schreibe besser, wenn ich nicht ans Veröffentlichen denke.

Eine Veröffentlichung ist also eigentlich eher etwas Lästiges?

Nein, mir gefällt das Objekt, das Buch. Aber jetzt gebe ich mich mit den Übersetzungen zufrieden, die von überall herkommen, schöne Objekte, die mich belohnen, in verschiedenen Sprachen, manche so exotisch, dass ich auf dem Buchumschlag nicht mal meinen Geburtsort Coronel Pringles lesen kann.

Mittwoch, 6. April 2016

Mein Leben ist einfach von Cecilia Pavón

Foto: Timo Berger
Cecilia Pavón, 2003. Foto: Timo Berger
Wenn es so einfach wäre, einfach zu schreiben, dann könnte es jeder. Aber halt: Vielleicht liege ich auch falsch, vielleicht schreibt Cecilia Pavón gar nicht einfach, sondern es erscheint nur so – was wiederum noch schwieriger wäre. Weil sich hinter dem Dahingesagten, dem vorgeblich Naiven, nicht nur ein doppelter Boden, sondern in selbigem gleich noch eine Falltür verbergen würde. So oder so, meine erste Begegnung mit Cecilia kam unerwartet, wie durch eine Falltür in einem doppelten Boden. Die Vorgeschichte: Ich studierte ein Jahr lang an der Universidad de Buenos Aires. An den Ausgängen der Geisteswissenschaftlichen Fakultät (einer ehemaligen Papierfabrik im Stadtteil Caballito) verteilten studentische Politgruppen Flyer, von Zeit zu Zeit stand da auch eine einzelne Frau, die eine Literaturzeitschrift verkaufte, „Nunca, nunca quisiera irme a casa“ (Ich will nie, nie nach Hause gehen) lautete ihr Titel. Einmal, als ich in Begleitung eines deutschen Freunds war, der mich eine Woche in Argentinien besuchte, sprach sie mich direkt an, ich winkte ab, mein Freund aber zeigte Interesse. Er verstand zwar nicht, was die Verkäuferin ihm genau anbot (weil er kein Spanisch sprach), doch auf meinen Hinweis – mein Freund spricht kein Spanisch, deswegen macht es keinen Sinn für ihn, eine spanischsprachige Literaturzeitschrift zu kaufen – entgegnete sie nur: oh, kein Problem, die Hälfte der Zeitschrift besteht aus Zeichnungen und schlug sie auf – und es stimmte. Die 7. Ausgabe der „Nunca, nunca“ hatte ein großzügiges Design mit elegante langen Strichen und Farbflächen. Mein Freund drückte der Verkäuferin schon das Geld in die Hand.

Anderthalb Jahre später, 2000, – ich kam gerade aus Zivals, Corrientes und Callao, hatte dort Bücher gekauft, unter anderem den Gedichtband „Alga“ von Gabriela Bejerman – die Herausgeber neben Gary Pimiento besagter Zeitschrift – traf ich mich mit einem Freund aus Liniers in dem traditionellen spanischen Café La Girarlda auf der Corrientes. Am Nachbartisch saß … Gabriela Bejerman, wie mir irgendwann auffiel. Ich kommentierte dies dem Freund aus Liniers und erzählte, dass ich gerade ein Buch von ihr gekauft hatte. Er forderte mich heraus – lachend wie es seine Art war. Hey, du traust dich sicher nicht, sie um eine Widmung zu bitten. Irgendwann war mir seine Aufzieherei genug und ich trat etwas schüchtern an ihren Tisch. „Du wirst mich nicht kennen, aber du hast einem deutschen Freund von mir mal deine Zeitschrift verkauft und ich habe heute zufällig ein Buch von dir gekauft …“ Wir sprachen ein wenig über die Zeitschrift, eine weitere Nummer sei in Planung. Ich weiß nicht mehr, wie ich ihr sagte, dass ich auch Gedichte schrieb. Bring mir nächste Woche welche mit, sagte sie jedenfalls und: „Gleiche Tag, gleicher Ort!“

Eine Woche später ließ sie mich die Gedichte nicht einmal auspacken. Komm mit, ich muss dir jemanden vorstellen, nahm mich mit nach draußen, wo ihr Auto geparkt war, irgendwas zwischen Ente und Mini (hier trügt die Erinnerung ganz sicher). Wir stiegen ein und fuhren los. Sie zündete einen Joint an, Gras aus Paraguay, erklärte sie. Die Corrientes entlang waren wir in wenigen Minuten in Almagro, ungefähr auf Höhe der Plaza bog sie ab, nach rechts. Wir parkten neben einem Ladenlokal an der Oktaederförmigen Straßenkreuzung: Die Galerie Belleza y Felicidad, von der ich bis dahin nichts gehört hatte. Gabriela trat vor mir ein, mehrere Menschen (darunter Washington Cucurto, der einzige, den ich kannte) blickten mir erwartungsvoll ins Gesicht. Gabriela sagte: „Ich habe euch Timo Berger mitgebracht. Er wird ja heute hier seine Gedichte lesen ...“ Mir verschlug es die Sprache.

Nach der Lesung (Cucurto hatte mich ein wenig beruhigt) aus Anlass einer Vernissage, lernte ich Cecilia Pavón kennen, die zusammen mit Fernanda Laguna die Galerie leitete. Sie hatte, wie ich nun erfuhr, Gedichte von mir gelesen. Wer allerdings auf die Idee gekommen war, mich (im Rückblick gesehen) derart charmant in die Galerie zu locken, weiß ich bis heute nicht. In der „Nunca, nunca quisiera irme a casa“, erschienen die Gedichte, die ich Gabriela mitbrachte, jedenfalls nie. Dafür veröffentlichte Cecilia später ein paar meine Texte in einer Zeitschrift und in fotokopierten und von Hand zusammengetackterten Heften, die sie in den Ediciones Belleza y Felicidad herausgab. Als sich die Wirtschafts- und Währungskrise 2002 verschlimmerte, zog Cecilia für einige Zeit nach Berlin. Sie schrieb ein Langgedicht über ein von ihr auf dem Flohmarkt erstandenes gestohlenes Fahrrad, mit dem sie durch Berlin fuhr, zusammen schrieben wir vierhändig Gedichte „No me importa el amor, me importa la plata“ und ich eine Erzählung mit dem Titel „Moldawien“. Das ist viele Jahre her. Vor ein paar Tagen stolperte ich im Netz über ein Gedicht von ihr, das nun folgt:



Mi vida es sencilla,

está hecha de

1) un niño

2) un jardín

3) un circulo de sillas donde se reúne la gente a hablar.

4) un departamento proletario en un barrio proletario

5) una heladera que enfría mal

A la mañana, después de dejar a mi hijo en la escuela, leo la revista GENTE que habla de la farándula local tomando café de mala calidad en bares del barrio de Once.

Pero mi vida me encanta y mis ojos están llenos del sol del salvaje tercer mundo,

Creo en lo antiguo y en el drama, por eso lloro tanto, y a veces cuando paso por la Iglesia de San Expedito prendo una vela verde y roja y pido algo, el otro día pedí paz,

una vez hace tres años pedí claridad

Estaba de novia con un crítico de arte que me dejó, aunque en realidad no era un novio sino un psicópata.

Todos los días paso frente a un mercado abandonado lleno de ratas donde está sentada una prostituta y pienso que soy igual a ella.

En la iglesia de San Expedito hay una gran mesa de metal llena de velas encendidas,

cuando las miro,

pienso en el infierno.

Pero mi vida mi encanta y hoy, a la tarde, estaba segura de que este libro era un elixir

Jun 12th, 2015



Mein Leben ist einfach,

es besteht aus

1) einem Kind

2) einem Garten

3) einem Stuhlkreis, in dem man sich trifft, um sich unterhalten.

4) einer proletarischen Wohnung in einem proletarischen Viertel

5) einem Kühlschrank, der nicht richtig kühlt

Morgens nachdem ich meinen Sohn in die Schule gebracht habe, lese ich die Zeitschrift GENTE, über die lokale Schickeria, die in Bars in Once schlecht gebrühten Kaffee trinkt.

Aber mein Leben erfreut mich und meine Augen sind voll mit der Sonne der wilden Dritten Welt,

ich glaube an das Antike und an das Drama, deswegen weine ich so viel, und manchmal, wenn ich an der San Expedito-Kirche vorbeikomme, zünde ich eine grün-rote Kerze an und mache eine Fürbitte, neulich bat ich um Frieden,

einmal, vor drei Jahren, bat ich um Klarheit.

Ich hatte einen Freund, der Kunstkritiker war, der mich verließ, obwohl er eigentlich gar kein richtiger Freund war, sondern ein Psychopath.

Jeden Tag komme ich an einem verlassenen Markt voller Ratten vorbei, wo eine Prostituierte sitzt, und ich denke, ich bin genau wie sie.

Ein großer Metalltisch voll mit brennenden Kerzen steht in der San-Epedito-Kirche,

wenn ich sie betrachte,

denke ich an die Hölle.

Aber mein Leben erfreut mich und heute Nachmittag war ich mir sicher, dass dieses Buch ein Elixir ist.


12. Juni 2015


Cecilia Pavón, geboren 1973 in Mendoza, gründete 1999 mit Fernanda Laguna Belleza y Felicidad (ByF), Geschenkladen, Galerie und Verlag. Sie veröffentlichte Gedichtbände und Erzählungen, darunter: „Virgen“ (ByF), „Un hotel con mi nombre“ (Ediciones del Diego), „Caramelos de anís“ (ByF), „Los sueños no tienen copyright“ und „27 poemas con nombre de persona“ (Triana), sowie zusammen mit Fernanda Laguna „Ceci y Fer“ (ByF).

Weiterlesen:

- Ehemaliger Blog von Cecilia Once Sur

Donnerstag, 26. November 2015

Wie im Stummfilm

The Driver
Im Rückspiegel verschwanden die letzten Häuser von Czernowitz, die Reklametafeln und Schornsteine. Und auch die drei Tage, an denen ich Gedichte hörte und las, den schizophrenen Alltag eines Landes erlebte, in dem ein unerklärter Krieg tobt. Mehr als drei Stunden brauchte ich mit dem Taxi ins 135 Kilometer entfernte Iwano-Frankivsk, wo ich den Bus nach Lemberg nehmen sollte. An jenem Sonntag fuhr der Zug erst spät, sodass ich das Flugzeug über Wien nach Berlin verpasst hätte. Czernowitz, die historische Hauptstadt der Bukowina, liegt fernab der europäischen Verkehrsrouten, die Überlandstraße H10 war eine einzige Katastrophe.
Doch ich blickte gerne in den Rückspiegel auf die überwundenen Schlaglöcher. Genoss die holprige Fahrt, das Schweigen im Taxi, weil der Fahrer und ich keine gemeinsame Sprache hatten. Ich ließ die Bilder des Festivals an mir vorbeiziehen. Der Präsident, Svyatoslav Pomerantsev, der es im Prunksaal der Jurij-Fedkowytsch-Universität mit einem Selfie vor den Publikum eröffnet hatte. Die jungen Dichter wie Dmytro Kazakow oder Arsenij Tarasow, die über den Krieg sprachen. Die alten Dichter wie Borys Chersonskyj, die von einem anderen Krieg sprachen, der aus dem multikulturellen Czernowitz eine sowjetische Stadt gemacht hatte. Und dann der Whisky spät nach einer Lesung im Paul-Celan-Literaturzentrum und der Rotwein noch später in Serhij Zhadans Hotelsuite, die dem Schlagerstar Iwo Bobul gewidmet war, der Lieder wie „Die Seele des Brunnens“, „Mondrad“ und „Ich werde in die Ukraine zurückkommen“ geschrieben hat.
Off the records
Zwischen Modellen der Lieblingsgitarre, bekannten CDs und Fotografien des Sängers erzählte Serhij in einen Bademantel gehüllt eine Anekdote über Iwo Bobul nach der anderen, die ich – der ukrainischen Sprache nicht mächtig – nicht verstand. Doch ich liebte dieses Gefühl, eingetaucht in eine Welt zu sein, in der mir alle wie Schauspieler in einem Stummfilm vorkamen. Bei den Lesungen auf dem Festival bekamen wir dagegen zwei weitere Stimmen geliehen, eine russische von Marc Belorusec und eine ukrainische von Petro Rychlo. Und die Gedichte erhielten neue Laute, eine ungewohnte, aber sonore Tonlage. Der hagere Belorusec und resolute Rychlo sind Altmeister der Übersetzerkunst, beide haben die fast alle Gedichte von Paul Celan übersetzt.
Celan – ein wenig der Grund, warum mir der Name Czernowitz vor meinem Besuch überhaupt etwas sagte. Und ja, seine poetologische Rede „Der Meridian“ ist Namensgeber des Festivals – und natürlich sitzt die Leitung desselben im Paul-Celan-Literaturzentrum an der Ul. Ohla Kobylianska, wenige Querstraßen von seinem Geburtshaus in der Ul. Saksahanskoho 5 entfernt, eigentlich einer Souterrain-Wohnung in einem leicht heruntergekommenen Hinterhaus. Kein Wunder, dass man jahrelang das pompöse Vorderhaus für Celans Geburtshaus hielt. Auch dies ein Zeichen, wie sehr die Brücken zwischen der Vergangenheit als habsburgische, als rumänische, als sowjetische Stadt und der ukrainischen Gegenwart ein fragiler Konstrukt sind: Es muss nicht nur erinnert werden an die einstige kulturelle Größe und Glanz, es müssen auch ganz reale Orte gefunden oder neu geschaffen werden. Denn der Großteil der Bevölkerung wurde im und nach dem 2. Weltkrieg ausgetauscht: deportiert, vertrieben, geflohen, umgesiedelt. Die Zuzügler mochten sich nach dem Krieg wie Schauspieler in Kulissen, die andere errichtet haben, gefühlt haben.
Dmytro Kazakow
Und doch spürt man überall, dass die Czernowitzer dieses kulturelle Vermächtnis nicht nur erinnern, sondern ihm neues Leben einhauchen. Paul Celan ist hier ein ukrainischer Dichter, und man hört Bewunderung heraus, wenn ein junger Dichter aus Czernowitz dem deutschen Gast den im Literaturzentrum an die Wand gemalten Vers „Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts“ in tadellosem american english erklärt: „It is from his most important poem. About the war.“ Und der Krieg ist wieder da. Dmytro Kazakow im Trenchcoat erzählt mir, sein bester Freund, wie er ein Dichter, sei jetzt gerade an der Front. Über soziale Medien tausche man sich aus. Er selbst würde sich sofort freiwillig melden – wenn er nicht für den Dienst an der Waffe untauglich wäre. „Es ist unser Land“, sagt er – und das obwohl er russischsprachig ist, aus der Südukraine in der Nähe von Odessa stammt. Der Konflikt, merke ich, ist komplexer als es aus der Außensicht erscheint. Zhadan selbst fährt regelmäßig in die Gebiete hinter die Front in humanitärer Mission. Jurij Andruchowytsch, der andere Grande der aktuellen ukrainischen Literatur, tritt bald mit seiner Band in Mariupol auf, einer der zwischen Regierungstruppen und von den Russen unterstützten Rebellen umkämpften Stadt. Es geht nicht um russisch oder ukrainisch, es geht um eine Invasion. In Dmytro Kazakows Blick blitzt Verzweiflung auf, dann lacht er wieder, erinnert an die Nacht zuvor, im Luxusapartment von Iwo Bobul, mit Zhadan und den anderen. Und das ist genau der Widerspruch den das Land gerade lebt. Zwischen Feldpost und Partys, zwischen zivilem Engagement hinter der Front und kulturellem Austausch mit Europa.
Czernowitz
Im Rückspiegel verschwinden die letzten Häuser der Stadt. Ein Regenguss verwandelt die staubige Straße in eine matschige Rutschbahn. Der Fahrer flucht leise in sich hinein, kurbelt die Scheibe ein wenig hinunter, steckt sich eine Zigarette an. Es ist ein Rennen gegen die Uhr, dass wir schließlich verlieren. Laut Fahrplan ist der Bus schon abgefahren. Doch er steht noch da auf dem behelfsmäßig wirkenden Busbahnhof in Iwano-Frankivsk an der Ausfallstraße. Voll besetzt ist das klapprige Gefährt, aber der Fahrer verkauft Stehplätze auf eigene Rechnung. Insgeheim hatte ich gehofft, noch länger in diesem Land zu verweilen, das obwohl im Osten ein nicht erklärte Krieg tobt, die Fremden mit offenen Armen empfängt. Das englisch, deutsch spricht, das von Europa träumt, wie wir schon längst nicht mehr.