Montag, 7. Juli 2014

Lob der Reptilien von Julio Carrasco

Julio Carrasco. Foto: Timo Berger
Manchmal kommt es mir vor, als würde ich Julio Carrasco seit Ewigkeiten kennen. Dann wieder denke ich, ich kenne ihn eigentlich gar nicht. Was denkt er, wenn er wie 2011 eine Zigarre paffend vor mir steht. Hinter ihm das Mokalola, sein Stammcafé auf der Roten Insel in Schöneberg? Ich könnte es nicht sagen. Wenn man mit ihm spricht, chattet oder ihn auf Veranstaltungen und Empfängen beobachtet, merkt man, dass er immer nicht nur einfach da ist, wo er ist, sondern immer auch gleichzeitig woanders, dass er nebenher Emails beantwortet, einem Dritten einen vielsagenden Blick zuwirft, jemanden herbeiruft, permanent Netzwerke knüpft, Ideen weiterspinnt und Projekte festklopft. Oder einfach ein Buch, eine Zeitschrift aus seiner Tasche zaubert und der staunenden Runde präsentiert. Er hat etwas Kumpelhaftes, nennt sein Gegenüber gerne „hermano“, Bruder, und bleibt doch auf gewisse Weise distanziert, undurchdringlich, wenn nicht gar unvorhersehbar. Eine tiefe Melancholie legt sich bisweilen auf seine Augen. In seinem dichterischen Schaffen, seinen poetisch-technoiden Aktionen mit der Gruppe Casa Grande, seinen Auftritten mit der Band Los Muebles hat er mal hat genialische Ideen, mal verliert er sich (allein oder mit Mitstreitern) in skurillen Spielereien. Vor ein paar Tagen erreichte mich sein neuester Gedichtband „Elogio de los reptiles“ (Tácitas, Santiago de Chile, 2014) aus den Händen einen anderen Dichter, der in Berlin lebende Chilene José Pablo Jofre. Den Umständen geschuldet, kam ich seit langem einmal wieder dazu, einen Gedichtband zu lesen. Und ich muss gestehen, ich setzte den Band erst ab, als ich ihn – noch vor dem Frühstück auf nüchternen Magen – zu Ende gelesen hatte. Es sind prosaische Gedichte, die kleine Geschichten erzählen, die literarische Zitate, Zeitungsnachrichten, populäre Weisheiten und Tierfilme miteinander verweben. Es sind Montagen mit einem lyrischen Ich, dem oft nicht das gelingt, was er sich vornimmt oder dem genau das passiert, was er sich nicht vornimmt, der über Piranhas sinniert und Haie, in einem Moment emphatisch über sie spricht, im nächsten bitterbös. Zwei, drei Gedichte kannte ich schon von einer gemeinsamen Lesung 2012 im von Martin Jankowski geführten Literatursalon am Kollwitzplatz, wovon eines und seine Übersetzung unten zu lesen ist. Ich musste immer wieder schmunzeln bei der Lektüre seines Gedichtsband, auch einmal herzlich lachen. Julio sah ich im Winter 2011, Frühling 2012 mehrmals in Berlin, er wohnte in der Nachbarschaft, in einer Parallelstraße. Einmal saßen wir zusammen in der letzten 80er-Jahre-Rockerkneipe der Roten Insel. Gegenüber zog sich damals noch ein Band von Autowerkstätten. Kurz nachdem Julio wieder nach Santiago de Chile zurückfuhr, schloss die Kneipe, wurden die Werkstätten abgerissen und ein Park angelegt. Wenn man ihn traf, erzählte er – wie in seinen Gedichten – oft von unglücklichen Lieben und fernen Ländern, von Möglichkeiten und Abgründen. Die Selbstironie war für ihn das beste Mittel gegen das Scheitern. Doch spulen wir zurück: Zum ersten Mal begegnete mir Julio Carrasco im Internet – er schickte Gedichte, die für ein „bombardeo poético“, einen (wie die Literaturwerkstatt euphemistisch umdichtete) „Poesieregen“ übersetzt werden sollten, der anlässlich der Langen Nacht der Museen im August 2010 über dem Lustgarten niedergehen sollte. Julio und seine Dichtegruppe Casagrande traf ich in personae, als sie den Ort ihrer spektakulären Aktion in Augenschein nahmen und festlegten, aus welcher Richtung der Hubschrauber mit den Mitgliedern von Casa Grande hereinfliegen und seine Runden über dem Berliner Dom drehen und dabei Tausende von Gedichten junger chilenischer und deutscher Dichter abwerfen sollte. Wenige Tage später standen Hunderte von Menschen vor dem Dom und stritten sich um die vom Himmel herab segelnden und in der Dämmerung silbern glänzenden Kartonstreifen mit Gedichten. Ein unvergesslicher Moment auch für Nicht-Lyrikfreunde.

Über dem Lustgarten 2011. Foto: Timo Berger
Doch nun zu Gedicht und Buch.


Pequeña improvisación romántica

El nerviosismo me hizo comerme la uña del anular izquierdo
mientras revisaba por última vez el repertorio de mi examen de piano

Seguí tocando sin percatarme de que sangraba
y se mancharon tres o cuatro teclas del registro grave

Mi sangre sobre el piano me dije
Demoré unos cinco minutos en volver a la realidad

Esto sucedió hace algunos años, lo recordé porque
justo ayer, mientras fotocopiaba a la carrera los formularios
de un concurso de proyectos a punto de expirar
me corcheteé1 el pulgar sin darme cuenta

Caí en un lapsus al ver las páginas de los formularios
manchadas con sangre sobre la mesa de recepción

y sentí que debía escribir sobre aquella vez
cuando quedé ensimismado
mirando las teclas de un piano
manchadas con mi sangre


Kleine romantische Improvisation


Nervös wie ich war, kaute ich auf dem Nagel meines Ringfingers herum,
während ich das Repertoire meiner Klavierprüfung ein letztes Mal durchging

Ich spielte, ohne zu bemerken, dass ich blutete
und drei, vier Tasten in den tiefen Lagen besudelte

Mein Blut auf dem Klavier sagte ich zu mir selbst
Ich brauchte fünf Minuten, um wieder zu mir zu kommen

Das war vor ein paar Jahren. Gestern fiel es mir wieder ein
als ich wie ein Verrückter die Formulare für einen Antrag
fotokopierte, dessen Frist ablief, und mir dabei eine Klammer
in den Daumen tackerte, ohne es zu bemerken

Als mein Blick auf die Blutflecken an den Formularen
auf dem Tresen des Nachtportiers fiel, schweiften meine Gedanken ab

Mir wurde klar: Ich sollte über das andere Mal schreiben,
als ich gedankenverloren auf die Tasten
eines Klaviers blickte, die von meinem Blut
besudelt waren.



Julio Carrasco, geboren 1969 in Santiago de Chile, ist Musiker, Dichter und Ingenieur. Er hat in Kuba, Chile und Deutschland gelebt. Er hat die Gedichtbände „Despedidas Antárticas“ (Mercurio Aguilar, 2006), „Sumatra“ (Ediciones Tácitas) und „El Libro de los Tiburones“ (Editorial Cachiyuyo, 1995) verfasst. Er ist Mitglied des Künstlerkollektivs Casagrande, die besonders mit „Gedichtbombardments“ in Berlin, Warschau, London, Guernica, Dubrovnik und Santiago de Chile bekannt geworden sind. Er ist außerdem Sänger der Band Los Muebles.


Einige Gedichtbände von Julio Carrasco



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